In den Tagen zwischen Weihnacht und Neujahr spazieren wir durch die Altstadt von Locarno. Es dämmert und die Festtagsbeleuchtung ist bereits eingeschaltet. Musik tönt aus einem Fenster, oder woher? Nein, aus einem Lautsprecher direkt über uns quakt ein unverwüstliches „White Christmas“, ein paar Strassen weiter vorne scherbelt ein bekannter Gospel durch die Gasse. Warum? Klar, um Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Ob das nun die richtige Art der Beschallung, die adäquate Musik, die geeigneten Lautsprecher sind, sei dahingestellt, aber es wird jedenfalls hauptsächlich gesungen.
Ich bin eher ein nüchterner Mensch, wenn es um medizinische Themen geht. Das heisst nicht, dass mir nicht klar wäre, dass die Psyche bei jeder Erkrankung eine wesentliche Rolle spielt. Dass man speziell, wenn man mit der Stimme arbeitet, sehr eng mit der psychischen Ebene und mit viel Emotionen zu tun hat, ist für ebenfalls mich kein Geheimnis. Ich habe nur Mühe, wenn mit Plattitüden um sich geworfen wird. Zum Beispiel, wenn bei jedem Vortrag oder jedem Gespräch, bei dem es um die Stimme geht, mit wissendem Lächeln betont werden muss, dass Stimme und Stimmung eben zusammengehören. Meistens, wenn diese Wortverwandtschaft, die sicher nicht zufällig ist, erwähnt wird, hat man den Eindruck, dass der Sprecher betont Originalität und Kenntnis von archaischen Zusammenhängen zeigen und vermitteln möchte, und das nervt gelegentlich.
Aber ich erinnere mich an einen Nachmittag vor ein paar Tagen, Herr König* kam in die Sprechstunde. Seit ca. 2 Jahren leidet er unter einer schwachen, schlecht belastbaren und unzuverlässigen Stimme. Er hat einen eher depressiven und zögerlichen Charakter. Es war ein langer Weg, bis er vor einigen Wochen zugestimmt hatte, dass wir seinen durch Muskelschwund geschwächten Stimmlippen durch Unterfütterung mit Hyaluronsäure zu einer besseren Funktion verhelfen. Als auch ich meine durch die Unsicherheit des Patienten bedingte Zurückhaltung überwinden konnte, haben wir den Eingriff eine Woche zuvor durchgeführt. Als ich Herrn König an diesem Tag im Wartezimmer sah, beschlich mich ein banges Gefühl, ich erwartete ein schlechtes Resultat. Er stand schneller als sonst auf, seine Begrüßung tönte gar nicht schlecht. Der Patient wirkte locker und heiterer als sonst. Die Stimme hatte sich tatsächlich, wie man das eigentlich erwartet, gebessert. Herr König bemerkte eine deutlich geringere Belastung beim Sprechen. Und dann sagte er: „Es ist interessant, ich merke, dass sich jetzt, wo die Stimme besser ist, auch meine Gefühlslage deutlich gehoben hat.“ Auch wenn man weiß, dass Stimme und Stimmung zusammengehören, war diese Aussage in diesem Moment überraschend. Aber sie liess einen Moment die Dimension dieser Wortverbindung glasklar erscheinen.
Die Weihnacht bewegt die Gemüter wie kaum ein anderes Fest, weckt Gefühle, und alle warten darauf, in die Stimmung zu kommen, die sie aus ihrer Kindheit kennen und in der Regel lieben. Drum ist es auch absolut richtig und nachvollziehbar, dass genau an Weihnachten so viel gesungen wird. Und da die Erinnerungen an frühere Weihnachtserlebnisse in uns sehr stark sind, schafft es sogar eine blechern klingende Stimme durch einen Sportevent tauglichen Lautsprecher in der abendlichen Altstadt Locarnos, unserer Seele etwas weihnächtliche Wärme zu verleihen.